Behandlungserläuterung
Die zervikale Myelopathie
Ursachen, Auswirkungen und Symptome
Sehr große Bandscheibenvorfälle, vor allem aber sich über Jahre entwickelnde massive knöcherne Engstellen im Bereich der Halswirbelsäule, können durch permanenten Druck auf das Rückenmark zu dramatischen Symptomen führen.
Viele Patienten haben zu Anfang nur leichte Schmerzen im Nacken mit gelegentlichem Ziehen in die Arme. Weit häufiger fällt ihnen jedoch bei Bewegungen des Kopfes nach vorne oder hinten auf, dass ein elektrischer Blitzschlag den gesamten Körper durchzuckt (Lhermittsches Zeichen). Begleitend tritt eine Taubheit der Arme und Hände auf, welche zunächst unterschwellig bemerkt wird, im Verlauf jedoch permanent vorhanden ist und an Intensität zunimmt. Zu der „normalen“ Taubheit kann sich je nach Länge und Ausprägung der Myelopathie ein Brennen hinzugesellen.
Neben den Beschwerden in den Armen kann die Taubheit auch die Fußsohlen und Beine betreffen, auch kommt es vor allem zum Abend hin sowie in Ruhe gelegentlich zu unwillkürlichem Zucken der Unterschenkel und Füße. Beim Laufen bei Dunkelheit, also ohne Sichtkontrolle durch die Augen, bemerken viele Patienten, dass sie sich sehr unsicher, förmlich tapsig fühlen und sich Fehltritte häufen. Bei extremer Ausprägung der Myelopathie können sogar die Blasen-Mastdarmfunktion ebenso wie die Potenz des Mannes gestört sein.
Alles entscheidend bei der Behandlung und vor allem beim Verlauf der Symptome bei einer zervikalen Myelopathie ist der Zeitpunkt, zu welchem die Diagnose gestellt wird. So haben insbesondere Patienten mit akut aufgetretenen Symptomen bei einem großen akuten und weichen Bandscheibenvorfall mit Diagnosestellung wenige Tage oder Woche nach Beginn die höchsten Chancen, dass sich der Großteil der Beschwerden wieder zurückbildet. Im Gegensatz hierzu entwickeln sich die Ausfallerscheinungen bei knöcherne Veränderungen sehr schleichend und bleiben häufig über Monate manchmal sogar Jahre unbemerkt oder werden auf andere Erkrankungen geschoben. Wird in diesen Fällen eine Kernspintomographie der Halswirbelsäule angefertigt, zeigen sich dann schon sichtbare Veränderungen im Halsrückenmark. Hierbei handelt es sich entweder um eine noch rückbildungsfähige Schwellung oder aber schon um eine Narbe, welche unwiderruflich vorhanden bleibt. Entsprechend variabel ist die Erholungsfähigkeit nach einer Operation. So können sich trotz Narbe die meisten Symptome bei intensiver Reha und anschließend konsequentem Training auf ein erträgliches Maß reduzieren. Genauso können insbesondere die brennende Taubheit der Hände sowie die Gangstörungen unverändert bestehen bleiben. Bei weniger als einem Prozent der Patienten kann es sogar trotz einer Operation zu einem weiteren Fortschreiten der Symptome mit schrittweiser Entwicklung einer inkompletten Querschnittslähmung kommen.
Aufgrund dieser seltenen aber dramatischen Verläufe müssen insbesondere bei den häufig älteren Patienten mögliche Begleiterkrankungen in jedem Falle berücksichtigt werden!
Eine Operation bei zervikaler Myelopathie ist ausschließlich unter stationären Bedingungen möglich. So muss bereits am Tag vor der Operation mit der Gabe von Infusionen begonnen werden, welche das Rückenmark abschwellen lassen. Die Narkose bei einem Patienten mit einem auf ein Minimum zusammengedrückten Rückenmark erfordert eine optimale Zusammenarbeit zwischen Neurochirurgen und Anästhesisten. Eine klassische Intubation (Legen des Beatmungsschlauches in die Luftröhre) verbietet sich, da durch übermäßiges Überstrecken des Kopfes das sowieso schon platte Rückenmark vollends zusammengequetscht werden könnte, was einen kompletten Querschnitt zur Folge hätte. Daher werden in diesen Fällen Spezialverfahren wie die Intubation mittels Glidescope oder aber die fiberoptische Intubation durchgeführt, welche im Klinikum Hanau regelmäßig Anwendung finden.
Im Gegensatz zur klassischen Stabilisierung der Halswirbelsäule von vorne muss insbesondere auch bei der Lagerung jegliche Überstreckung unterbleiben. Die technische Vorgehensweise bei der Operation unterscheidet sich hingegen bis zum Erreichen des Wirbelkanals nicht von der der klassischen Operation. Allerdings ist die Präparation innerhalb des Wirbelkanals extrem aufwändig und schwierig. Um zu vermeiden, dass das Rückenmark überhaupt berührt werden muss, wird der „drückende“ Befund mit der Hochgeschwindigkeitsfräse umfräst. Gelegentlich ist hierbei sogar eine Teilentfernung der angrenzenden Wirbelkörper (Teilcorporektomie) erforderlich. Hier werden quasi hauchdünne Sollbruchstellen am Knochen geschaffen, nach deren Entfernung das quetschende Material in den Bandscheibenraum zurückgezogen werden, so dass sich im Moment das Rückenmark wieder frei entfalten kann. Der weitere Ablauf der Operation unterscheidet sich dann nicht mehr zur klassischen Operation mit abschließender Einbringung eines Cages in den Bandscheibenraum. Nur bei Vorliegen einer Instabilität wird zusätzlich vorne auf die Wirbel eine stabilisierende Platte aufgebracht.
Bei einer geringen Anzahl von Patienten wird die zervikale Myelopathie durch einen drückenden Sporn im hinteren Bereich des Wirbelkanals verursacht. Dann ist eine Operation von vorne unmöglich. Die Entlastung des Rückenmarkkanals wird von hinten her durch eine vollständige Entfernung der Wirbelbögen gefolgt von einer Verschraubung der Wirbel über ein Schrauben-Stab-System (Fixateur interne) erreicht.
Im Anschluss an die von vorne oder hinten durchgeführte Operation erfolgt ebenso eine mehrstündige Überwachung im Aufwachraum. Am Abend nach der Operation sowie in den ersten beiden Folgetagen erhält der Patient weiterhin abschwellende Infusionen. Zudem beginnen wir schon während des stationären Aufenthaltes mit einer physiotherapeutischen Beübung, da hierdurch in entscheidendem Maße die langfristige Ausprägung der Symptome beeinflusst wird. Im Gegensatz zur klassischen Halswirbelsäulenoperation ist eine Rehamaßnahme im Anschluß an den stationären Aufenthalt extrem wichtig. Wird das Rückenmark von Beginn an täglich kräftig trainiert und werden die Übungen unterstützt durch Sport und Ausdauertraining konsequent auch nach Ende der Reha beibehalten, können viele Symptome entweder verschwinden oder auf ein erträgliches Maß reduziert werden.
Das Standardverfahren zur Begutachtung der Halswirbelsäule ist auch bei Verdacht auf eine zervikale Myelopathie die Kernspintomographie. Hierdurch sind jegliche Veränderungen mit eventuell vorhandenem Druckschaden innerhalb des sogenannten Halsmarks (Schwellung/ Narbenbildung) eindeutig darzustellen. Vor allem bei starken Verknöcherungen ist bei geplanter Operation fast immer eine ergänzende Computertomographie mit so genannter Knochendarstellung erforderlich, da diese für die operative Strategieplanung wichtig ist.
Lediglich bei schwersten Begleiterkrankungen und fehlender OP-Fähigkeit des Patienten muss versucht werden, durch konservative medikamentöse und krankengymnastische Therapie ein rasches Fortschreiten der Symptome zu verhindern.
Ansonsten ist eine Operation in den meisten Fällen unumgänglich. Der ausgeräumte Bandscheibenraum wird mit einem Cage stabilisiert – musste ein Teil des Wirbels mit entfernt werden, ist teilweise auch das zusätzliche Aufbringen einer Platte auf die Wirbelkörper von vorne notwendig.